Was muss sich der Laie unter einer stillen Entzündung vorstellen?
Dr. Paolo Colombani: Akute Entzündungen sind komplexe Stoffwechselabläufe. Sie dienen der Wiederherstellung des gesunden Zustands nach einer Infektion oder Verletzung von Gewebe. Wie zum Beispiel bei einem Schnitt in den Finger gibt es immer einen Auslöser oder eine Ursache für sie und werden von wahrnehmbaren Symptomen wie Rötung oder Schmerz an der betroffenen Stelle begleitet. Ist der ursprüngliche, gesunde Zustand wieder hergestellt, löst sich die akute Entzündung auf.
Bei der stillen Entzündung erfolgen ähnliche Stoffwechselvorgänge wie bei der akuten Entzündung. Ihr Verlauf ist aber nur niederschwellig und vor allem ohne Symptome. Weil sie sich nicht bemerkbar macht und im Gegensatz zur akuten Entzündung auch nicht auflöst – sie bleibt oft chronisch bestehen. Sie kann durchaus bereits im sehr frühen Erwachsenenalter starten und Jahrzehnte wirken. Etwa die Hälfte der Erwachsenen sind davon betroffen.
Die stille Entzündung gilt heute als gemeinsame Ursache vieler, vielleicht sogar aller Zivilisationskrankheiten wie Diabetes-Typ‑2, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs oder Alzheimer. Und deswegen wird laut jüngsten wissenschaftlichen Erhebungen die stille Entzündung für mehr als die Hälfte der weltweiten Todesfälle verantwortlich gemacht.
Gibt es einen primären Treiber (Gewicht, Stress, Inaktivität) in der Kettenreaktion der Krankheitsentstehung?
Die stille Entzündung entsteht in bestimmten Immunzellen, hauptsächlich in den weissen Blutzellen. Da diese nicht nur im Blut, sondern in praktisch jedem Organ und Gewebe im Körper vorhanden sind, kann die stille Entzündung überall im Körper ausgelöst werden.
An erster Stelle stehen aber das Fettgewebe und der Darm, denn sie beherbergen eine enorme Anzahl an weissen Blutzellen. Somit sind die primären Treiber von stillen Entzündungen ein Fettgewebe, in dem kaum Fett abgebaut wird, und ein Darm, der nicht optimal funktioniert.
Der Abbau von Fett im Fettgewebe erfolgt in erster Linie durch körperliche Aktivität. Bei einem zu wenig bewegten Lebensstil ist die Chance daher gross, dass die stille Entzündung schon vorliegt. Eine suboptimale Darmfunktion macht sich immer wieder direkt bemerkbar. Oder sie ist sogar sichtbar: Wenn die Stuhlform nicht wurstartig ist, sondern ständig eher klumpig oder wässrig, dürfte die stille Entzündung ebenfalls bereits vorhanden sein.
Die Auslöser für eine stille Entzündung sind sehr vielfältig: Neben zu geringer körperlicher Aktivität und unvorteilhafte Ernährung mit beispielsweise zu wenig Nahrungsfasern und zu vielen Kohlenhydraten können auch Stress, Feinstaub und andere Umweltgifte oder auch nicht abklingende akute Entzündungen die stille Entzündung auslösen und aufrechterhalten.
Reicht ein gesunder Lebensstil aus, um die stille Entzündung in den Griff zu bekommen?
Der Lebensstil ist massgebend für die stille Entzündung verantwortlich. Jede Massnahme, um sie zu kontrollieren, beginnt und fokussiert daher auf den Lebensstil. Die mediterrane Diät ist hier eine hervorragende und nachgewiesenermassen effektive Wahl. Jedoch kann selbst bei einem sinnvollem Lebensstil eine stille Entzündung weiterhin vorliegen. Ein heisser Kandidat als Ursache wäre dann die Mundhygiene. So ist mittlerweile bekannt, dass die Entzündung des Zahnhalteapparates, die Parodontitis, durchaus die stille Entzündung befeuern kann und so an der Entstehung vieler Krankheiten (mit)beteiligt ist. Trotz sinnvollen Lebensstils bietet deswegen nur die Analyse Gewissheit, ob eine stille Entzündung vorliegt oder nicht.
Zur Person
Dr. Paolo Colombani ist Wissenschaftler und Autor, der an der Schnittstelle zwischen Lebensmittel, Ernährung, körperliche Aktivität und Gesundheit forscht. In seinem neuen E‑Book «deFlameYou!» erzählt er in leicht verständlicher Sprache zum ersten Mal die gesamte Geschichte zur stillen Entzündung. deFlameYou! zeigt auch die Massnahmen, um die stille Entzündung in den Griff zu bekommen.