Fast jeder Dritte tut es: 30 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer greifen zu mindestens einem Nahrungsergänzungsmittel. Am meisten werden Vitamine und Mineralstoffe eingenommen, wie eine repräsentative Umfrage des Bundes Anfang 2024 zeigte. Viele erhoffen sich eine präventive Wirkung. Was aber zu bedenken ist: Nahrungsergänzungsmittel sind keine Heilmittel. Und oftmals wäre es besser, nicht einfach so zu Präparaten zu greifen, wie Ruth Ellenberger, dipl. Ernährungsberaterin (HF/SVDE) vom Ernährungszentrum Zürich, empfiehlt.
Was darf von Nahrungsergänzungsmitteln erwartet werden?
Ruth Ellenberger: Viele Menschen haben das Gefühl, sie könnten ein gesundheitliches Fehlverhalten bezüglich Ernährung und Lebensstil kompensieren. Sie essen zum Beispiel nicht ausgewogen, schlafen zu wenig, sind gestresst und haben deshalb häufig auch noch Verdauungsprobleme. Aber statt etwas zu ändern, ist es zum Beispiel einfacher, Anti-Stress-Kapseln einzunehmen.
Das bedeutet also auch, dass Vitaminpräparate kein idealer Ersatz sind für Früchte und Gemüse?
Eine Tablette kann einen Apfel mit seinen Nahrungsfasern, Mikronährstoffen und positiver Wirkung auf die Verdauung keineswegs ersetzen.
Schadet es gar, wenn man zu viele Pillen einnimmt, die Verbesserung versprechen?
Der übermässige Gebrauch kann zum einen nicht den gewünschten Effekt haben und zum anderen auch zu Nebenwirkungen führen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Fluorid ist wichtig für die Zähne – ein Mangel führt zu einer Schwächung des Zahnschmelzes, eine Überdosierung ebenso zu einer Störung. Oder ich erinnere mich an Curcumin, den Wirkstoff aus der Kurkuma-Wurzel: Diesem wurde u. a. eine Krebs-Prophylaxe zugeschrieben, was einige veranlasst hat, solche Präparate löffelweise zu sich zu nehmen. Die Folge waren schwere Leberschäden.
Wo ist auch Vorsicht geboten?
Bei Rauchern ist Beta-Carotin gefährlich, dadurch kann sich das Krebsrisiko sogar erhöhen. Oder Vitamin K und Blutverdünner vertragen sich nicht, da steigt die Blutungsgefahr erheblich. Nicht gut ist auch die Einnahme von Kalzium-Präparaten bei einer Neigung zu Nierensteinen.
Sie haben die vermeintliche Krebs-Prophylaxe angesprochen: Krankheiten vorzubeugen ist mit Nahrungsergänzungsmitteln gar nicht möglich?
Nein, denn es gibt keinen Nachweis dafür. Aber die Angst vor Krebs, Demenz oder Mobilitätsverlust hat einen starken Einfluss darauf, dass es viele dennoch tun.
Hinsichtlich der bevorstehenden Wintermonate ist es aber sicher ratsam, sich mit Multi-Vitamin-Präparaten gegen Erkältungen oder eine Grippe zu wappnen?
Nein. Prävention ist wie ein Langzeitprojekt, in dem der Körper und sein Immunsystem gesund gehalten werden. Das heisst: Viel mehr als ein Präparat bewirken regelmässige Bewegung an der frischen Luft, abwechslungsreiche Ernährung und genügendes Trinken gegen trockene Schleimhäute sowie Stressminimierung. Jedoch kann ein Präparat nach einer Grippe unterstützend fürs geschwächte Immunsystem sein.
Wann aber kommen Nahrungsergänzungsmittel mit Vorteil zum Einsatz?
Um temporäre oder auch dauerhafte Defizite auszugleichen, zum Beispiel bei Krankheiten wie Rheuma oder Osteoporose. Aber ebenso nach Operationen, nach Infekten oder nach Zahn- und Kieferbehandlungen. Ein erhöhter Bedarf an bestimmten Mikronährstoffen besteht ebenfalls in der Schwangerschaft und Stillzeit wie auch während des Wachstumsschubs bei Kindern und Jugendlichen.
Was in all diesen Fällen in Absprache mit einer ärztlichen Fachperson erfolgt, nicht?
Richtig. Besonders sollte auch bei bestimmten Medikamenten auf ein mögliches Defizit geachtet werden. Bei dauerhafter Einnahme von Säureblockern zum Beispiel kann ein Vitamin-B12-Mangel entstehen, ebenso beim Anti-Diabetikum Metformin.
Worauf müssen diejenigen achten, die sich vegetarisch oder vegan ernähren?
Vegetarier, die eine abwechslungsreiche Ernährung pflegen, lediglich auf Eisen. Veganer hingegen sollten auf genügend B12, Kalzium, Vitamin D, Eisen, Omega‑3, Jod, Zink und Selen schauen.
Haben ältere Menschen einen Mehrbedarf?
Grundsätzlich nicht. Es kann aber sein, dass sie aufgrund von Einsamkeit oder Armut mangelhaft essen, was zu ändern wäre. Als sinnvoll erachte ich die Einnahme von Vitamin D das ganze Jahr über, wer aufgrund von Immobilität nicht oft draussen ist. Generell empfehle ich Vitamin D für die Wintermonate, aber auch Omega‑3, wenn auf dem Ernährungsplan kaum Fisch steht.
Was könnte auf einen Nährstoffmangel hinweisen und sollte gecheckt werden?
Wenn man sich grundlos über längere Zeit müde, abgeschlagen und krafztlos fühlt. Oder über einen längeren Zeitraum «ungewohnterweise» friert. Oder wenn man immer wieder Durchfall hat beziehungsweise chronisch verstopft ist.
Welche Art von Patienten und Patientinnen sucht Ihre Beratung auf?
Zum einen solche, die aufgrund von schweren Erkrankungen dauerhaft auf eine gezielte und ergänzende Versorgung von Nährstoffen angewiesen sind. Zum anderen zunehmend gesunde Personen mit grossen Ängsten vor Krankheiten, aber auch dem Älterwerden. In beiden Fällen erfolgt eine umfassende Aufzeichnung des Zustands und die schrittweise Umsetzung von Verbesserungsmassnahmen. Der vorübergehende Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln kann durchaus ein Hilfsmittel sein.
Zum Artikel
Lesen Sie hier das ganze Interview mit Ruth Ellenberger «Der (zu) schnelle Griff zu den Präparaten» von Marco Hirth:
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